Frankreich hat wie die meisten anderen europäischen Staaten die Djihadisten, die uns freundlich ins Gesicht lächeln und dann in den Tod reißen, zum größten Teil im Visier, Allah sei Dank. Selbst einen einsamen Trittbrettfahrer wie diesen gottverlassenen Chérif Chekatt hatten die Sicherheitsbehörden als einen potentiellen islamistischen „Gefährder“ in ihrer Kartei, allerdings – wie den Berliner Attentäter Anis Amri – zugleich als kriminellen „Intensivtäter“. Darin liegt offenbar die Hauptschwierigkeit: zu erkennen, wann jemand aufgrund einer Einflüsterung oder aus eigenem, einsamem Entschluss von der einen in die andere Kategorie wechselt und den Plan fasst, seiner verpfuschten Existenz in einem letzten Amoklauf ein Ende zu setzen.
Ihre „Netzwerke“ bestehen außer aus lokalen Mentoren oder elektronischen Ratgebern oft nur aus ihren eigenen Brüdern, Cousins oder Kumpels; von einer professionellen Untergrundstruktur ist nicht viel zu sehen. Bleiben sie nach ihrer gelungenen oder misslungenen Mordaktion nicht als Märtyrer auf der Strecke, sondern werden gefangen und kommen vor Gericht, sind sie meist die reinen Waschlappen, die sich von ihren Anwälten nach bürgerlichem Gesetzbuch verteidigen lassen. Stolze Anklagereden gegen die Ankläger, wie man sie aus der Geschichte der Revolutionäre aller Länder kennt, hat man von diesen Gotteskriegern kaum einmal gehört. Im Knast hoffen sie dann, auf die leise Tour neue Proselyten zu machen – wozu genau, das wissen sie auch nicht. Die Hydra braucht immer neue Köpfe, die nachwachsen, das ist die einzige Ratio ihrer Existenz.
Ansonsten sind sie spektakulär erfolglos, diese selbstgemachten Djihadisten; jedenfalls außerhalb des „Hauses des Islam“. Falls es ihnen tatsächlich um die „Islamisierung des Abendlands“ zu tun sein sollte, wie einige drüben im Tal der Ahnungslosen bei Dresden glauben, dann erreichen sie natürlich das absolute Gegenteil. Vermutlich wollen sie auch genau dies: die Ungläubigen in Pawlow’sche Rage „gegen den Islam“ zu bringen und sich selbst auf diese Weise ins Recht zu setzen. Dann wären AfD, Pegida und publizistische Feldschützen wie Sarrazin für sie fast schon die Garanten einer nachträglichen, höheren Sinnstiftung.
Jene Machtinstanzen und Militärapparate der westlichen Welt dagegen, die unter der Fahne eines „Kriegs gegen den Terror“ im Irak, in Libyen und anderswo dem neuen Djihadismus vom IS-Typ erst den Weg bereitet haben, können diese Zeloten nicht einmal am Hintern kratzen. Sie versuchen das auch gar nicht, anders als die Linksterroristen der 1970er Jahre, die als fiktive Soldaten einer imaginären Weltrevolution ihre Machteliten und Machtapparate mit allem existenziellem Ernst direkt angegriffen haben. Statt der für sie unerreichbaren Politiker, Polizisten oder Militärs mähen die blassen Djihad-Jünger lieber mit Lastwagen, Maschinenpistolen und Messern arglose, fröhliche Gruppen von Menschen auf irgendwelchen Partymeilen in Nizza oder Paris oder Weihnachtsmärkten in Berlin oder Straßburg wahllos nieder. In derart feiger, verächtlicher Weise ist kein noch so verfehltes politisches oder weltanschauliches Ziel jemals verfolgt worden. Darin haben die islamistischen Terroristen aller Länder tatsächlich neue Maßstäbe gesetzt.
Gerade mit der völligen Wahl- und Ziellosigkeit ihrer Mordaktionen, die keinem erkennbaren politischen Ziel und Zweck dienen, schaffen sie es allerdings zuverlässig, uns auch tatsächlich zu terrorisieren und zu hysterisieren. Es ist ganz einfach: Rufe vor deiner Bluttat „Allahu akbar“, und alle Welt wird vor dir erzittern! Nichts könnte banaler, durchsichtiger sein als dieses Kalkül, das dank unserer Medien und dank unserer selbst tatsächlich aufgeht. Anschließend brauchen die Profis im virtuellen Kalifat des IS über ihre Laptops und Accounts nur noch das Internet mit der Behauptung zu füttern, es habe wieder einmal ein „Soldat des Islam“ dem Feind einen verheerenden Schlag zugefügt, und schon werden „skandalöse Versäumnisse“, die es per Definition gegeben haben muss, weil der Anschlag nicht verhindert wurde, aufgedeckt, und eine demokratische Staatskrise ist da.
Damit laufen wir im Narrenzug der Djihadisten allerdings wie die Lemminge mit. Wir blasen ihre nichtswürdigen „Un-Taten“ zu den Top-News auf, die sie unbedingt sein wollen. Nicht dass man diese Akte eines islamistischen Terrorismus totschweigen oder verharmlosen sollte. Sie sind eine sehr reale, gravierende Herausforderung. Aber dass es keinen Weg gibt, sie auf ihre reale Bedeutung zurückzustutzen, stellt unseren demokratischen und aufgeklärten Gemeinwesen ein fragwürdiges Zeugnis aus.
Zwei Tage nach Straßburg hat in Nürnberg ein blonder, 38-jähriger Deutscher (jetzt muss man die ethnische Herkunft immer dazu sagen) drei Frauen niedergestochen, die nur hauchdünn überlebt haben. Er hat diese Taten kurz hintereinander im Dämmer abendlicher Straßen, ohne jedes erkennbare Motiv, begangen. Statt „Allahu akbar“ zu rufen, blieb er stumm wie ein Fisch. Deshalb war es auch ein reiner Kriminalfall, der nicht in die Kategorie „Terrorismus“ fiel – zu Recht. Aber das zeigt nur, wie verschwimmend diese Kategorie selbst ist; denn der Nürnberger Daniel G. ist seinem sozialen Profil nach fast ein Doppelgänger von Chérif Ch. in Straßburg – ein krimineller Intensivtäter, immer mit einem Fuß im Gefängnis. Nur sein „Motiv“ hat er noch nicht preisgegeben. Es muss mit einem speziellen Hass auf Frauen zu tun haben. Das könnte ihn seinem islamistischen Doppelgänger näherbringen als man auf den ersten Blick sieht.
„Terrorismus“ soll ein Morden aus politischen und ideologischen Motiven kennzeichnen, das nicht Teil einer regulären militärischen Auseinandersetzung ist. Da beginnen schon die Schwierigkeiten, weil es reguläre und irreguläre Formen der Kriegführung gibt, die Züge von Terrorismus tragen. So ist es nicht ganz leicht, den Unterschied zwischen einer auf die gezielte Tötung bestimmter, als feindlich identifizierter Personen oder Gruppen gerichteten Drohnenattacke, die von einem Profi am Joystick in Arizona anonym gesteuert und kühl ausgelöst wird, und einem fanatischen Selbstmordattentäter, der sich selbst in eine „gelenkte“ Bombe verwandelt und in einer Menge in die Luft sprengt, genau zu bestimmen. Man könnte das erstere fast moralisch verwerflicher finden als das zweite, gäbe es nicht die Frage danach, wer die Opfer des einen und des anderen Angriffs sind. Ob es sich um einen Akt des militärischen, wenn auch irregulären Kampfes oder um ein Massaker an zufälligen („unschuldigen“) Opfern handelt, macht dann doch einen Unterschied.
Trennscharf ist er allerdings nicht, denn die Profis am Joystick, die zum Abendbrot nachhause gehen, entscheiden über Tod und Leben nach reinem Verdacht, machen „kurzen Prozess“. Wer einmal auf diese Weise „ausgeschaltet“ worden ist, der war per Definition „Terrorist“ – so wie ein toter Bauer im Reisfeld in Vietnam damals ein toter „Vietcong“ war. Heute gibt es keinen Potentaten oder Autokraten, der nicht seine Gegner als „Terroristen“ bekämpft, indem er seinerseits Terror übt.
Alle Einwände gegen diesen ubiquitären, routinemäßig missbrauchten Begriff sollen aber nicht zum Verschwinden bringen, dass es einen „Terrorismus“ als ein spezifisches Handlungsmuster tatsächlich gibt, insbesondere unter dem Feldzeichen eines global operierenden politischen Islamismus, wie das seit dem 11. September 2001 in der spektakulärsten Art und Weise sichtbar geworden ist. Dieser herostratische Akt eines gewollten Massenmords richtete sich in der denkbar totalsten Weise gegen das Sündenbabel New York und gegen die Welt der „Ungläubigen“ als solche, also gegen uns, die wir in dieser Sicht offensichtlich allesamt dem Tod und Verderben geweiht sind. Das war und ist eine Feinderklärung, die man in ihrer Totalität und Bedingungslosigkeit nicht ablehnen kann, sondern der man mit allen legitimen Mitteln der Selbstverteidigung begegnen muss.
Aber die Träger und Organisatoren dieses als Djihad deklarierten Terrorismus ließen und lassen sich relativ präzise eingrenzen. Schon die Al-Khaida des Emirs Bin Ladin hatte eine reguläre Kommandostruktur, und im IS-Kalifat gab es sogar so etwas wie eine hierarchische Staatsorganisation, mit eigenen Finanzströmen und Kommunikationsmitteln. Die konnte und kann man mit militärischen, polizeilichen, justiziellen, ökonomischen und administrativen Mitteln austrocken und ausschalten. Indem jedoch von Präsident Bush im Jahr 2002 ein regelrechter „Krieg gegen den Terror“ ausgerufen wurde und der legitimen Intervention in Afghanistan der völlig illegitime und kontraproduktive Einmarsch in den Irak angehängt wurde, wurde statt gegen ganz bestimmte, zu isolierende und auszuschaltende Gegner ein Kampf gegen Windmühlenflügel eröffnet, der in all seiner Blindwütigkeit und mit all seinen unvermeidlichen und tatsächlich unverzeihlichen Kollateralschäden nur eine neue Drachenbrut heranzüchten konnte – und das mit überragendem Erfolg auch getan hat.
Aus El Khaida im Zweistromland wurde der „Islamische Staat“ unter der Ägide des Kalifen El-Baghdadi, eines früheren, durchaus gottlosen Ingenieurstudenten, der im amerikanischen Militärgefängnis von Abu Ghraib seine Bekehrung und Berufung erfahren hat. Erinnert man sich noch an die obszön übereinandergeschichteten, nackten Leiber der gedemütigten Gefangenen und an ihre lachenden, filmenden amerikanischen Wärterinnen und Wärter? Diese, den Phantasien eines Marquis de Sade würdige Inszenierung trägt vielleicht alle Geheimnisse des „Kampfs der Kulturen“ in sich, um den es sich bei der globalen Konfrontation mit dem politischen Islamismus eben auch handelt.
Man muss allerdings genau hinschauen. Denn die frisch bekehrten oder von Werbern aus dem Netz gefischten, angehenden Djihadisten, die sich 2014 vom kurzen Siegeszug der IS-Kämpfer haben elektrisieren lassen, waren und sind uns, den designierten Opfern ihrer Anschläge, näher als es uns und ihnen lieb ist. Sie kommen in Wirklichkeit eben nicht aus irgendwelchen anachronistischen Welten eines frommen Islam, sondern sie kommen aus unseren eigenen Vorstädten und Elementarschulen, und ansonsten aus denselben Worlds of Warcraft oder Worlds of Porn, in denen auch ein Teil ihrer Jugendkohorte insgesamt feststeckt – wie die Fliegen auf einem Klebstreifen. Davon versuchen sie sich mit aller Gewalt zu lösen und sich exorzistisch zu reinigen, indem sie fromm werden und sich zwanghafte Rituale auferlegen.
Was den politischen Islamismus gegenüber allen anderen und früheren Extremismen auszeichnet und ihm seinen ganz eigenen totalitären (d.h. aufs Ganze zielenden) Charakter gibt, das ist vor allem die Obsession mit den sich unaufhaltsam emanzipierenden Frauen. Neben den Klassenhass und den Rassenhass ist denn auch ein sexueller Hass getreten, der an die ältesten und daher am tiefsten sitzenden, „empfindlichsten“ Instinkte und Affekte appelliert. Wie die faschistischen und die kommunistischen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, knüpft auch der totalitäre Islamismus an realen Konflikten und Gefährdungen des modernen Lebens an, hier: eines bis dahin als selbstverständlich vorausgesetzten familiären und generationellen Zusammenhalts, den historisch und tatsächlich vor allem die Frauen garantiert haben, genauer gesagt: ihre familiäre und letztlich sexuelle Verfügbarkeit. Und insofern geht es um Leidenschaften, mit denen unseren eigenen Gesellschaften keineswegs fertig sind.
Eine Nachricht aus „Hatewatch“, April 2018 – ich fasse sie kurz zusammen: Ein gewisser Alek Minassian ging in einer Einkaufspassage in Toronto auf eine Amokfahrt mit einem Lieferwagen, die 10 Tote und 15 Verletzte forderte, die Mehrheit einkaufende Frauen. Über die Motive des 25-Jährigen, den Polizei und Justiz bis dahin nicht auf dem Radar gehabt hatten, gab es viele Spekulationen. Es hieß jedenfalls, es handele sich um keinen Akt des politischen Terrors.
Dann wurde auf Minassians Facebook-Account ein Post gefunden, der am Tag vor dem Attentat formuliert worden war: “Private (Recruit) Minassian Infantry 00010, wishing to speak to Sgt 4chan please,” it reads. “C23249161. The Incel Rebellion has already begun!” Das ließ die Alarmglocken schrillen, nachdem es in Kalifornien zuvor schon einen ähnlichen Anschlag mit einem Bekennerschreiben gab, auf das sich der Attentäter von Toronto bezog. Gab es doch ein Netzwerk, dem „Soldat Minassian“ reportierte? Um welche „Rebellion“ ging es dabei?
“Incels,” oder “involuntary celibates,” also unfreiwillige Junggesellen, sind „part of the online male supremacist ecosystem“, so das Southern Poverty Law Center, das “männlichen Suprematismus” als eine neue Ideologie auf der Hasskarte des Landes verzeichnete. Diese Gruppen, hieß es erklärend, “consistently denigrate and dehumanize women, often advocating physical and sexual violence against them”. Für einen “Incel” sei Sex ein Grundrecht aller Männer, und Frauen, die ihnen dieses Recht trotz aller Bemühungen verweigern, begehen damit ein niederträchtiges – und zu bestrafendes – Verbrechen.
Unter diesem Aspekt können der stumme Nürnberger Messermann und der Allahu akbar-brüllende Straßburger Amokläufer auch als „Incels“, unfreiwillige Junggesellen, betrachtet werden, so wie viele der jugendlichen Islamisten und Djihadisten auch, die jedes Mädchen, die sich ihrem Zugriff entzieht, also jede „Hure“ zuerst ficken und dann umbringen möchten. Seyran Ates, die in Berlin eine reformierte Moschee eröffnet hat, berichtet, dass in den Hassbotschaften, die sie aus dem Milieu der aggressiv-frommen Muslime erhält, kein Wort so oft und so obsessiv vorkommt wie „ficken“ – wie bei einer einschlägigen Zwangsneurose.
Diese neurotische oder pubertäre Dauererregung in einer zugleich übersexualisierten und enterotisierten, mit Gewaltbildern überfluteten und zugleich pazifizierten Öffentlichkeit wie der unseren, deren Hauptmedium nun das World Wide Web geworden ist, mag auch die emotionale Grundsuppe sein, in der die amerikanischen Schul-Amokläufer ihre einsamen Entschlüsse treffen. Und wenn ihnen in der Waffenkultur ihres Landes und ihrer Familien die Pump-Guns und Schnellfeuergewehre, mit denen sie das Leben ihrer glücklicheren Mitschüler und das ihrer „ungläubigen“ Lehrer (die nicht an sie, die Attentäter, „geglaubt“ haben) auslöschen können, wie Schicksalsvögel fast von allein zuflattern, dann ist es eben nur noch ein Schritt.
Für den „Terror“, der in den USA wie eine Epidemie wütet und jedes Jahr tausende von Toten fordert, braucht es keine auswärtigen Terroristen, von denen Trump wie im Fieber faselt. Es braucht nur eine mediale Alltagskultur aus Drogen, Gewalt, Sex und Verachtung für die „looser“ aller Kategorien. Die passenden Ideologien oder religiösen Schlachtrufe finden sich dann schon. Sie sind zugleich die Bannwörter, genauer gesagt: die Pseudoerklärungen, an denen wir uns krampfhaft festhalten, um das unbegreifliche Geschehen zu verarbeiten.
Er bedeutete ja nur dies: dass die Bundesrepublik, als ein reiches und relativ stabiles Land in der Mitte Europas, diesen Elendszug der überlebenden Flüchtlinge über den Balkan, so beängstigend er war, werde verkraften können – und müssen: Denn keiner hätte sich auch nur annähernd vorstellen können, was es z.B. für die Stabilität der fragilen Balkanländer bedeutet hätte, wenn man die in epischen Zügen durchziehenden Menschen (darunter ganze Familien) am Weiterziehen gehindert und gewaltsam draußen gehalten hätte.
Nur darum ging es. Die Grenze ist 2015 nicht auf verfassungswidrige Weisung der Kanzlerin (so die Fama) „geöffnet“ worden, sie war offen. Man hätte sie in Revision aller europäischen Abkommen schließen, auf allen Straßen und Wegen nach Österreich, Tschechien usw. Grenzsperren wiedererrichten (mit der Folge apokalyptischer Staus) und man hätte Patrouillen losschicken müssen, die die Landstraßen, Wege und die grüne Grenze sichern. Und die mittlerweile geschasste AfD-Vorsitzende Petry hatte ja ganz recht, als sie sagte, dass das natürlich den Einsatz von Schusswaffen einschließen müsse – so wie einst an den „Grenzsicherungsanlagen“ der DDR; oder in der Schweiz in der Zeit des zweiten Weltkriegs gegen Flüchtlinge aus Nazideutschland oder dem besetzten Frankreich.
Man hätte natürlich auch bewachte Internierungslager einrichten müssen, um die Massen der aufgegriffenen illegalen Grenzübertreter (Männer, Frauen, Kinder) zu sistieren und durch ein möglichst gehässig abschreckendes Lagerregime zu entmutigen. Konsequenter Weise hätte man ihnen den international verbürgten Status als Kriegsflüchtlinge oder als Asyl-Suchende verweigern müssen, etwa indem man sie dem Dublin-Abkommen gemäß in die Erstaufnahmeländer zurückgeschickt hätte – nach Österreich, Ungarn, Italien oder nach Griechenland, die sich selbstverständlich geweigert hätten. Und ein solcher Hexenkessel wäre in irgendeiner Weise „geordneter“ gewesen als das, was dann mit den in Zügen und Konvois eintreffenden Flüchtlingen nach ihrer Ankunft passierte?! Als sie weiterverteilt, beherbergt, eingekleidet, aufgefüttert und soweit irgend möglich registriert wurden? Das alles war so chaotisch und so geordnet wie es nach Lage der Dinge nur sein konnte.
Das Gegen-Szenario ist jedenfalls überhaupt nicht zu Ende zu denken, weder praktisch noch moralisch noch weltpolitisch. Europa wäre ein einziger, großer Balkan geworden, wie Herr Putin ihn haben möchte, wenn er die syrischen Rebellenstädte bombardiert und gleichzeitig die europäischen Fremdenfeinde alimentiert. Und der Balkan selbst wäre mit tödlicher Sicherheit wieder das geworden, was er in den Jugoslawien-Kriegen der 1990er Jahre schon einmal gewesen ist: ein Pulverfass, das sich diesmal mit den in Syrien und dem ganzen Nahen Osten tobenden Kriegen und Bürgerkriegen unmittelbar kurzgeschlossen und auch den Krieg zur Lähmung, Teilung oder völligen Zerschlagung der Ukraine weiter radikalisiert hätte.
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Angela Merkel hat es also im Herbst 2015 in mutiger Weise auf sich genommen, diese unhaltbare Situation in der einzig möglichen Weise zu entschärfen, auch auf die Gefahr hin, dass das unmittelbar zu weiteren pull-Effekten führen würde. Und sie hat den deutschen Bundesbürgern, die tatsächlich (wie schon in der Zeit des Jugoslawienkrieges) die Hauptlast dieses Ansturms zu tragen hatten, in ihrer bekannt unpathetischen Weise gesagt: Wir schaffen das.
Und wir haben es auch in Vielem auch geschafft. Es ist ein Ruhmesblatt der bayerischen Grünen in diesem Wahlkampf, dass sie den Akzent bei diesem Thema – unter den vielen anderen, vernachlässigten Themen – auf die enormen, bewundernswerten Integrationsleistungen von Bürgern und Bürgergruppen, von Bürgermeistern und Kommunen, Handwerksverbänden, Schulen, Kindergärten usw. gelegt haben, bei denen es im Übrigen ganz gleich ist, ob sie von altruistischen Motiven oder aufgeklärten Eigeninteressen geleitet sind. So wie es ein Ruhmesblatt der Zivilgesellschaft dieses Landes ist, und übrigens gerade in Bayern, dass sie dies alles Stück für Stück „geschafft“ hat. Dass das alles ohne Reibungen und Konflikte abgehen würde, dass mancher Überenthusiasmus der ersten Stunde sich abgekühlt, dass viele der freiwilligen oder amtlichen Helfer sich überfordert, im Stich gelassen, menschlich enttäuscht oder einfach erschöpft fühlen – das kann und konnte nicht anders sein und ist mehr als legitim. Aber es ändert nichts daran, dass sie ihr Teil für das Gemeinwesen getan haben.
Wir haben einen langen, schönen Sommer in Bayern verbracht, und weder in Regensburg, noch in Murnau, noch in Bad Tölz oder in Bamberg oder sonst wo war der Hauch eines Krisen- und Ausnahmezustands zu bemerken. Auch die Grenze nach Österreich in Kufstein war – außer den Staus, die wir umfahren haben – so offen und friedlich wie man es nur wünschen kann. Während dessen wäre die eben gebildete Koalitions-Regierung ums Haar daran gescheitert, dass Herr Seehofer nicht 5 Flüchtlinge pro Tag auf der Stelle zurückweisen darf – und das mitten in einer Zeit, in der uns der heiße Atem der kommenden Klimakatastrophe erst nur gestreift hat.
Dass die „Migrationen die Mutter aller Probleme“ seien, wie Horst Seehofer jüngst verkündet hat, in halbbewusster Anlehnung an Saddam Husseins glorreiche „Mutter aller Schlachten“, mit der diese Katastrophe unserer Zeit begonnen hat, zeigt einen Grad von selbstbezogener Borniertheit, der wirklich Angst machen kann. Wenn es eine „Mutter aller Probleme“ gibt, ist es die unaufhaltsam voranschreitende Erderwärmung um zwei, drei, vier Prozent. Man braucht kein Experte zu sein, um zu wissen, dass sie mit den Bürgerkriegen und Migrationen schon heute mehr zu tun hat als es das primitive Bild einer von dunkeln Kräften (Herrn Soros!) vorangetriebenen islamischen Invasion des christlichen Abendlandes auch nur ahnt.
„Es ist halt Sommer“, sagte Herr Meuthen fröhlich aus seiner klimatisierten Komfortzone als politischer Geschäftemacher, während in manchen Städten von Karatschi bis Kairo die Temperaturen über Wochen über 40 Grad lagen – Temperaturen, die kein menschliches Wesen auf Dauer ertragen kann. Warum stellen unsere Medienleute die AfD-Potentaten zur Abwechslung nicht einmal in dieser Frage zur Rede? Und wenn es schon um das Reizthema Nr. 1 geht: Warum fragt man die Twitterkönigin Frau Weidel („Das Abschlachten geht weiter“) nicht einmal, ob der in einem bis dato ungeklärten Gruppenkonflikt beim Volksfest in Chemnitz niedergestochene und getötete junge Deutsch-Kubaner sie nicht von Ferne ein klein wenig an ihre tamilische Lebensgefährtin erinnern könnte, und ob die beiden nicht eigentlich sehr geeignete Pöbel- und Hassobjekte für jene „Trauernden“ in Chemnitz gewesen wären, die in Pogromstimmung waren?
Und überhaupt: Wieso lässt sich eine ganze demokratische Öffentlichkeit und die Berliner Politik und Medienwelt in dieser Weise von einer 15%-Prozent-Protestpartei die Themen und die Agenda diktieren? Es wäre auch für den in begreiflicher Not lavierenden sächsischen Ministerpräsidenten Kretschmer eine wahre Befreiung, wenn ihm nicht die Politiker aller Parteien unisono nachredeten, man müsse unbedingt „die Besorgnisse der Bürger ernstnehmen“. Wolfgang Thierse war es als gelernter Bürgerrechtler, der einmal klargestellt hat, dass alle diese besorgten Bürger – ihre Ängste in Ehren – schon selbst wissen müssen, zu wem sie sich stellen und unter welchen Fahnen und Parolen sie marschieren.
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Was man in den Medien wie in der Politik am allermeisten vermisst, und nicht nur in diesen Fragen, ist ein demokratischer Bürgerstolz vor dem Thron des Souveräns, des Wahlvolks – erst recht wenn es in Gestalt jener Dauerempörten auftritt, die den demokratischen Slogan „Wir sind das Volk“ von 1989 völkisch umbiegen und sich selbst als das eigentlich legitime, unterdrückte, wahre kerndeutsche Volk inszenieren möchten. Politische Zivilcourage, wie man sie von gewählten Repräsentanten verlangen darf, hieße, dem Wahlvolk (so wie es sich in fluktuierenden und oft fragwürdigen demoskopischen Mehrheiten oder Minderheiten und in den Umfragewerten der Parteien darstellt) nicht einfach nach dem Munde zu reden, sondern ihm notfalls auch einmal unbequeme und unpopuläre Wahrheiten zu sagen oder ihm sogar, wenn es denn sein muss, diametral zu widersprechen. Vielleicht irre ich mich: Aber ein solcher Mut zur Unpopularität würde eventuell durchaus belohnt werden. „Sagt uns die Wahrheit!“, wie der „Zeit“-Redakteur Bernd Ulrich in einem Appell an die politische Klasse unlängst schrieb – freilich in einem ganz anderen, diametral entgegengesetzten Sinne, als das Geschrei über die „Lügenpresse“ es meint, das ja genau die Gott sei Dank noch vorhandene Qualitätspresse angreift, während es sich bereitwillig von „Russia Today“ oder „Sputnik“ oder aus den aus dieser Ecke gesponserten Websites nährt.
Es bedeutet ja keinerlei Bagatellisierung, es bedeutet auch keine besondere Multikulti-Euphorie, wenn man zu dem angeblich alles überschattenden Thema der Zuwanderung erst einmal nüchtern festhält, dass ohne Zuwanderer in der Bundesrepublik Deutschland keine einzige Fußballmannschaft mehr aufgestellt, keine Restaurants mehr betrieben, keine Alten gepflegt und keine Straßen gesäubert werden könnten – von den immer zahlreicheren türkischen, iranischen oder sonstigen ausländischen Namen in der Politik, in der Medizin, in den Medien, in der Wissenschaft, in der Literatur usw. ganz zu schweigen. Was ist das wieder für eine radikale Lebensblindheit, die man sich von den Sarrazins und den neuvölkischen AfD-Ideologen aufdrängen lässt? Deutschland würde sich tatsächlich „abschaffen“, wenn es sich allen Ernstes nach völkischen Kriterien oder den sozialdarwinistischen Maßstäben des Ex-Bundesbankers einer ethnischen Säuberung unterziehen würde.
Und ist jede hysterisch beschworene Angst als solche einfach nur zu akzeptieren? Gibt es nicht vielleicht historisch nur allzu bekannte Formen einer (gerne auch zielstrebig geschürten) Angsthypnose, die sich von allen Realitäten löst – natürlich nie ohne ein winziges Körnchen Wahrheit? Eine ferne Verwandte aus Dresden sagte uns vor Jahren auf einem Familienfest, man könne ja als Frau abends nicht mehr aus dem Haus gehen. Und weshalb? Na ja, wegen der Ausländer eben. Ist ihr selbst schon mal etwas passiert? Nein, aber sie hat schlimme Dinge gehört oder darüber gelesen. Das war übrigens noch vor der sog. „Flüchtlingskrise“. Seltsam, sagten wir: In Frankfurt, wo der Ausländeranteil 35% beträgt, kann man durchaus als Frau abends aus dem Haus gehen. Und in Dresden, wo der Anteil viel geringer ist, sollte das ganz anders sein – mal abgesehen davon, dass es Belästiger und Vergewaltiger auch kerndeutscher Nationalität schon immer reichlich gegeben hat?!
Steht dann also Aussage gegen Aussage, Lebensgefühl Ost gegen Lebensgefühl West – und muss man das dann einfach so stehen lassen? Könnte es nicht sein, dass es der Verlust der „machtgeschützten Innerlichkeit“ eines autoritären Obrigkeitsstaates wie der DDR war, dazu die psychischen Kosten einer radikalen Veränderung aller Lebensverhältnisse nach der „Wende“ von 1990 sowie die Gefühle der Entfremdung in einer nun massiv westlich geprägten, irgendwie enteigneten Lebenswelt, zu der sich die „Flüchtlingskrise“ nur noch hinzugesellt hat – und an der sich alle diese begreiflichen Verunsicherungen in den neuen Bundesländern dann kristallisieren? Viele Gespräche darüber, berichtet die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping, mündeten in den Ausruf: „Integriert doch erst mal uns!“ Was ja vielleicht ganz richtig ist, nur dass es einen Anspruch auf paternalistische Zuwendung formuliert, die auf ihre Weise problematisch ist: Die Politik muss „liefern“, und der Wähler ist querulatorischer Kunde. Und der pressure-point sind die „Asylanten“.
Alle Kriminalstatistiken und alle Realien des Lebens, alle Vergleiche mit anderen Zeiten und anderen Ländern, die man anführen kann, können dann nichts gelten gegenüber dem „Gefühl der Unsicherheit“, dem „was man so hört“, der eigenen „Meinung“ eben, die man eher aus einer diffusen zweiten, medialen Realität schöpft (vorzugsweise per Internet) als aus persönlichem Erleben; dazu natürlich aus dem ewigen Fundus einer mündlichen Gerüchteküche, die für Pogrome, Hexenjagden, Lynchaktionen auf allen Kontinenten und zu allen Zeiten verantwortlich war.
Immer gab es dafür auch reale Anlässe, so wie jetzt in Chemnitz auch. Migrationswellen gingen immer mit Ansteckungsgefahren und Kriminalität, mit sozialer Unordnung und politischer Unruhe zusammen – exemplarisch in den USA vor und nach dem ersten Weltkrieg, als Ellis Island von Wellen ostjüdischer Flüchtlinge aus den Pogrom- und Bürgerkriegsgebieten des Russischen Imperiums überschwemmt wurde. Diese Masseneinwanderung erzeugte ihrerseits Wellen eines giftigen, gewaltbereiten „Nativismus“, eines rassisch gefärbten weißen „Amerikanertums“, wie es in der Rhetorik von Donald Trump und der White-Suprematist-Bewegungen gerade Urständ feiert. Dazu kamen die Wellen einer „red scare“, einer „roten Furcht“, die sich vielfach mit antisemitischen Affekten verband und in den revolutionären, teilweise terroristischen Dispositionen einiger anarchistischer oder sozialistischer Gruppen durchaus einige Anhaltspunkte und Belege fand – so wie sie der phobische Anti-Islamismus heute im politischen Islamismus und im terroristischen Djihadismus leicht findet.
Dass dieser islamistische Terror noch einmal neue Maßstäbe der Menschenverachtung und einer totalitären Logik der Ausschließung von „Ungläubigen“ gesetzt hat, gehört sicherlich mit ins Bild; und dass viele der Anschläge (in Frankreich, in Großbritannien, in Belgien und in Deutschland) von „home-grown terrorists“, darunter etlichen Konvertiten, begangen worden sind, die mitten unter uns gelebt, gelernt, gearbeitet, gewohnt haben, oft auch Kinder deutscher oder französischer Mittelklassenfamilien waren (wie die „Sauerland-Gruppe“) – das alles hat den elementaren Schrecken dieser Untaten noch verstärkt. In einigen, eher seltenen Fällen waren „Flüchtlinge“, gescheiterte Asylbewerber dabei, die in Kamikaze-Aktionen von der Art des Anis Amri, geleitet von fernen Mentoren, ihr gescheitertes Leben in einem desperaten Vernichtungsakt zum Ende gebracht haben. Diese psychischen Prozesse, die in Vielem denen der Schul-Amokläufer gleichen, sind von außer schwer zu entziffern und zu erkennen.
Eine ganz andere Sache sind die tödlichen Beziehungsdramen in Kandel und anderswo, in denen sich patriarchale Besitzansprüche und Minderwertigkeitskomplexe gemischt haben dürften, verstärkt durch sprachliche Misskommunikation und unterschiedliche kulturelle Codes. Wieder ein anderer Fall war vermutlich die Tat von Chemnitz, die noch aufzuklären bleibt. Es stimmt und lässt sich nicht bagatellisieren: Cliquen betont machomäßig auftretender „Oriental boys“, meist gemischter Zusammensetzung, gibt es tatsächlich, auch bei uns in Frankfurt, und man weicht ihnen als älterer Mensch wie als Frau lieber aus, so wie betrunkenen Fans, Hooligans oder Glatzen auch. Aber es gibt ebenso Cliquen, die es eher charmant mit den Mädchen, die bei ihnen sind, probieren und die wie andere Jugendcliquen auch einfach herumhängen und Spaß haben. Was wiederum nicht bedeutet, dass nicht gerade auch hier in diesen gemischten, netten Jungendcliquen plötzlich mörderische Eifersuchtsdramen aufflammen oder Revierkämpfe entstehen. Das alles sind Dinge, die in jeder beliebigen Einwanderungsgesellschaft (klassisch in den USA der „Westside-Story“) sattsam bekannt sind; wofür es keine muslimischen oder lateinamerikanischen oder sonstigen Einwanderer braucht: Sondern dieser Sprengstoff steckt in jedem beliebigen Konflikt mit, zwischen und innerhalb afroamerikanischer Jugendgangs, für die die Gesellschaft der USA wenig oder nichts bereit hält als elende, subalterne Dienstleistungsjobs mit Service-Mützchen – oder eben Drogendeals. Fast unnötig auch zu sagen, dass hier die Schnittstelle der sozialen und der kulturellen Fragen und Probleme liegt. Rassenkonflikte kulturelle Reibungen sind immer zugleich auch Klassenfragen: Gut gebildete, erfolgreiche, womöglich vermögende „Ausländer“ haben weder bei uns noch in den USA irgendein gravierendes „Integrations“-Problem. Die Angst vor den Fremden ist in erster Linie die vor einer „Armutseinwandwerung“, vor eigener sozialer Degradierung.
Das Niederträchtige und vollkommen Indiskutable an der Rhetorik und Haltung der Chemnitzer Demonstranten und der sich ihnen andienenden AfD-Politiker ist der Versuch, alles in einen Topf zu werfen und in eine große Unheilserzählung zu bringen, die darauf hinausläuft, dass es notwendig sei, „unser Land zurück zu erobern“, als wäre es in den Händen irgendeiner fremden Besatzungsmacht. Und dafür ist dann eben auch jede Art von „Gegenwehr“, sprich, von Selbstjustiz erlaubt. Praktische Lösungsvorschläge sind nicht nur Mangelware; es kann sie in dieser ideologischen Verranntheit und emotionalen Kälte auch kaum geben. Sie können ja nicht einmal anerkennen, dass die gesamte Politik von Frau Merkel wie der Europäischen Union als Ganzer Zug für Zug und mit denkbar harschen Mitteln daran gearbeitet hat, einen weiteren unkontrollierten Zuzug aus Afrika und dem Nahen Osten zu verhindern.
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Wie die Demokratien mit dem Ansturm dieser beschönigend als „Populisten“ bezeichneten neuvölkischen, „identitären“, nationalreligiösen oder neofaschistischen Rechtsparteien und Prätendenten fertig werden, an deren Rändern sich regelmäßig noch extremere Gruppen und Ideologen tummeln, während sie vielerorts schon in die Rathäuser und Ministerien einziehen, ist noch nicht auszumachen. Entscheidend wird sein, inwieweit es diesen Parteien und Gruppen gelingt, die Agenda zu diktieren und dort, wo sie politische Macht in die Hände bekommen, den Institutionen- und Verfassungsrahmen auszuhöhlen und auszuhebeln.
Im günstigen Fall kann diese „rechtspopulistische“ Welle zu einer Immunisierung und demokratischen Gegenmobilisierung führen, die einer neuen, sozial eingreifenden, ökologisch verantwortlichen, kulturell vielseitigen Politik den Weg bereitet. Sie kann noch höher steigen, und sie kann auch wieder abebben. Wir werden es sehr bald genauer sehen, demnächst in den USA, bald auch in Italien, in Österreich, in Polen – und in Bayern.
Vieles hängt sowieso von weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Entwicklungen, Krisen und Konflikten ab, die niemand überschauen kann. Mit das Schlimmste an den momentanen Erregungen und dem haltlosen Gerede eines Seehofer über die „Mutter aller Probleme“ und eines Sarrazin über eine „Feindliche Übernahme“ ist, dass viel gravierendere, dramatischere, ganz anders gelagerte Herausforderungen und Gefahren dabei völlig in den Hintergrund treten.
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P.S. Ach ja, die Wagenbach-Bewegung. So viel Richtiges im Einzelnen, so viel Falsches und Unpraktisches im Großen und Ganzen findet sich in dem, was man bisher zu hören bekam, im Wesentlichen von Frau Wagenknecht selbst.
Die „soziale Frage“ wird in miserabilistischer Verkürzung auf Verteilungsfragen, auf Hartz IV-Sätze, Mindestlöhne und Steuerquoten reduziert; kein Funken einer darüber hinausgreifenden sozialen Phantasie, soweit ich bisher sehe. Die „unkontrollierte Einwanderung in die Arbeitsmärkte und Sozialsysteme“ soll reguliert werden – aber das sagt nun schon jeder; und der eigentlich schwierige, wunde Punkt der Asyl-Gesetze und ihrer praktischen Umsetzung, um den der Streit in der Linkspartei sich dreht, wird bequem umschifft; nur signalhafte Phrasen („man muss doch drüber reden“) geben der AfD-Klientel ein bisschen Futter. Ansonsten soll alles in die „soziale Frage“ aufgelöst werden – ein frommer Köhlerglaube, der unter anderem verkennt, dass die AfD keineswegs eine bloße Protestpartei der „Abgehängten“ ist, sondern die soziologischen Kriterien einer Volkspartei mühelos erfüllt.
Am weltfremdesten wirkt die exklusive Frontstellung gegen die Globalisierung westlich-amerikanischen Typs – what about China? Und eine Friedenspolitik möchte man ausgerechnet an der Seite Russlands führen, mit dem Europa sich gegen die amerikanische Welthegemonie verbünden soll – und das, während Russland unter der Ägide Wladimir Putins sich an seinen wiederaufgelebten Weltmachtambitionen selbst ruiniert, in jede Lücke stößt, die die amerikanischen Rückzüge lassen, aktive Kriege von der Ukraine bis Syrien führt. Und das tut es mit offiziellen und inoffiziellen Truppen, mit den dubiosesten Stellvertretern (wie den großrussischen Freikorpsführern im Donbass) und den fragwürdigsten Verbündeten (dem Massenmörder Assad und den iranischen Revolutionsgarden), vor allem aber mit den ruchlosesten Mitteln von Fassbomben und Chemiewaffen, von den reichhaltigen Formen hybrider Kriegsführung und aktiver Desinformation noch ganz abgesehen.
Diese außenpolitische Orientierung bringt das „Aufstehn“-Bündnis tatsächlich in die Nähe der AfD, viel mehr als der Verbalstreit um die Migrationsfrage bei den Linken. Vielleicht sollte man sich nach dem erklärten französischen Vorbild, Jean-Luc Mélenchons linksnationalistischer Wahlbewegung „La France insoumise“, auch gleich „Das ungebeugte Deutschland“ nennen. Nur ein Vorschlag.
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Indem ich das alles schreibe, kommen die Meldungen über den tödlichen Streit in Köthen herein, der das Schreckgespenst eines zweiten Chemnitz heraufbeschwört. Die Hektik des Nachrichtenflusses schafft ihre eigenen Wertungen, Bedeutungen, Dringlichkeiten. Wieder: ein undurchsichtiger Konflikt, wieder von vornherein in ethnischen Kategorien sortiert: „zwei Deutsche“ versus „zwei Afghanen“; dazwischen eine junge Frau. Nicht dass es falsch oder illegitim wäre, solche Zuschreibungen zu verwenden. Aber es stecken darin Suggestionen, die als solche schon auf problematische Verallgemeinerungen drängen. Gegen alle linksradikalen Narzissten, die sich in Chemnitz in ihren eigenen, hingerappten Gewaltphantasien wie in „Feine Sahne Fischfilet“ geahlt haben („bis der Bullenhelm vom Kopf fliegt“), kann man nur auf eine unparteiische polizeiliche Bestandsaufnahme und eine rechtsstaatliche Justiz hoffen, die jeweils ihre Arbeit machen – und aller „Widerstands“-Militanz (ob National oder Antifa) die Spitze nehmen. Den Verfassungsschutz, der nichts als Verwirrung stiftet und in entscheidenden Situationen nichts zu berichten weiß, sollte man auflösen.
Gut mögllich, dass es sich um eine Politik der gezielten Umarmung handelt. Oder einfach um einen Versuch der alten und neuen Rechten, in breiteres Fahrwasser zu kommen - so wie man in der alten kommunistischen Linken einst "Bündnispolitik" mit jeder Art von nützlichen Idioten machte. Aber vielleicht sind die "falschen Leute" ja auch zu ein paar richtigen Gedanken fähig, oder jedenfalls dazu, solche aufzunehmen und zu würdigen? Zumal die Fronten, die am letzten Wochenende in Berlin wieder so scheinbar klar zu Tage tragen - 5000 "Rechte" gegen 25.000 "Linke" und "Antifaschisten" - bei näherer Betrachtung so klar nicht immer sind.
Dass die agressive Selbstliebe der alt- und frischgebackenen Kerndeutschen eine oft ähnlich militante Selbstverleugnung der "antideutschen" Linken aufruft, die keineswegs masochistisch ist, sondern nur eine andere Form post-nationaler Selbsterhöhung, liegt eigentlich auf der Hand. Und dass "der Geist links weht", gehört zum Repertoire der Selbstbespiegelung und letztlich Selbstverdummung einer Linken, die alles, was "rechts" von ihr steht, mit dem "Nazi"-Label zu bannen sucht. Das ist nicht nur hilflos, sondern ändert wenig an der Tatsache, dass trotz der jüngsten AfD-Pleite in Berlin die politische und ideologische Rechte auf dem Vormarsch ist, auch wenn die Bundesrepublik Deutschland im internationalen Vergleich noch als ein Hort relativer demokratischer Stabilität und ziviler Gesinnung gelten darf.
In dieses Bild gehören auch eine Reihe abrupter persönlicher Kehrtwenden, die tief in das linke und liberale juste milieu hineinschneiden. So könnten die Avancen von rechts, die ich bekam, von allen anderen Gründen abgesehen auch damit zu tun haben, dass meine Ex-Ehefrau Krisztina, die meinen Namen weiter trägt und noch vor einigen Jahren eine kämpferische Neoliberale und begeisterte Soros-Biographin war, unlängst als Übersetzerin und Herausgeberin des Buchs eines Vordenkers der polnischen PIS namens Ryszard Legutko "Die Dämonen der Demokratie - Totalitäre Strömungen in den liberalen Gesellschaften" im Antaios-Verlag aufgetreten ist. Es war dann keine völlige Überraschung mehr, sie auch unter den Erstunterzeichner/inne/n der dubiosen "Gemeinsamen Erklärung 2018" zu finden, in der blankweg behauptet wird, dass "Deutschland durch eine illegale Masseneinwanderung beschädigt" sei und die Forderung erhoben wird, "die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes (wiederherzustellen)".
Arno Widman hat in der "Berliner Zeitung" Ende März konstatiert, dass die von der sog. "Flüchtlingskrise" induzierten Risse sich plötzlich mitten durch Freundschaften und eheliche Partnerschaften ziehen können - und hielt, was mich selbst und meine Ex-Frau angeht, ein ähnliches persönliches Drama für möglich wie dasjenige, das im Fall des Kulturwissenschaftlers Helmut Lethen und seiner jüngeren, "identitären" Frau Caroline Sommerfeld-Lethen ein etwas trüb-spekulatives Presseecho gefunden hat. Auch wenn davon in meinem / unseren Fall keine Rede sein kann (wir sind seit mehr als dreißig Jahren geschieden) - etwas an Widmans Vermutung ist doch richtig: die Risse gehen durch das "eigene" Milieu, das sich plötzlich als ungleich weniger zivilgesellschaftlich verlässlich erweist als man vermutet hätte. Seit Viktor Orbán sich bei Benjamin Netanjahu den Segen für seine unverhüllt antisemitische Kampagne gegen George Soros als den angeblichen Drahtzieher eines Untergangs des Abendlandes in Form eines "Großen Austauschs" (Autochthone gegen Muslime) geholt hat, hat die von Henryk Broder begründete "Achse des Guten" noch weitere, erstaunliche Pirouetten vollführt, die von einer universalisierten Islamkritik nach Sonstwohin führen.
Wahr ist andererseits, dass Sprachlosigkeit und Abbruch der Kommunikation keine Lösung sein können, nicht im Privaten, und auch nicht im Gesellschaftlichen. Irgendeine Form, sich - notfalls kämpferisch und polemisch - auch direkt auseinanderzusetzen, muss wohl gefunden werden, so klebrig man die Tentakeln finden mag, die da von rechts ausgefahren werden.
Das war für mich Anlass, für ein wissenschaftliches Jahrbuch eine Rezension über Thomas Wagners im letzten Herbst erschienenes Buch "Die Angstmacher" zu schreiben. Vielleicht ist dieser (noch unveröffentlichte) Text auch von anderem als nur akademischem Interesse - und meinerseits eine erste, indirekte Positionsbetimmung in diesem verminten Feld.
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Das Buch ist für seine Unvoreingenommenheit gelobt worden, und dem kann man sich durchaus anschließen. Wer nicht Zeit und Lust hat, das ausgedehnte Schrifttum aus dieser Ecke zu lesen, bekommt einen Eindruck, wie sie in etwa ticken und argumentieren – nämlich reichlich inkonsistent. Dass ein zur Chiffre verkommenes „1968“ ihnen derart als Fixpunkt dient, gerade indem sie ihm „den Krieg erklären“, während sie sich nun schon ein gutes Jahrzehnt lang, zuletzt in Gestalt der „Identitären“, als ein „1968 von rechts“ zu stilisieren suchen, hat auch ein wenig komische Seiten. So wirken ihre Versuche, die Provokationsstrategien der verblichenen „Subversiven Aktion“ von Anno 1964 noch einmal neu zu beleben, eher museal, verglichen mit den ausgebufften Protestformen von heute, sagen wir eines „Women’s March“ in Washington mit seinen hunderttausend rosa Pussy-Caps. Und nirgends scheinen die Theorien eines Antonio Gramsci, der in seiner faschistischen Gefängniszelle vor bald hundert Jahren von einer künftigen „kulturellen Hegemonie“ der Linken träumte, mit solch heiligem Ernst studiert zu werden wie bei diesen Neurechten – die sie sich gleichzeitig im „faschistischen Stil“ einer großartig pessimistischen, ästhetisch-heroischen Haltung zur verkommenen Welt üben.
Man hört den Interviewten zu, von Götz Kubitschek (Antaios) bis Ellen Kositza (Sezession), von Martin Sellner (Identitäre) bis Frank Böckelmann (Tumult) und glaubt von Fall zu Fall etwas verstanden, sogar ganz einleuchtend gefunden zu haben – aber dann liest man weiter und alles ist irgendwie durchs Sieb gelaufen. Scheinbar klar klingt die Positionsbestimmung, die der französische Vordenker Alain de Benoist – der Gründer einer „Nouvelle Droite“ nach 1968 – einst vorgegeben hat: „Mein Hauptgegner war immer der Kapitalismus in ökonomischer Hinsicht, der Liberalismus in philosophischer und das Bürgertum in soziologischer Hinsicht.“ (Vgl. S. 65). Auf dieser Linie soll es gegen die neoliberale Globalisierung, den multikulturellen Hedonismus und den sozialdemokratischen Verrat an der Arbeiterschaft gehen. Aber dann rühmt Kubitschek sich als den Vorahner des großen Durchbruchs, den 2012 Thilo Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ für die Rechte bedeutet habe, und gibt die Losung aus, „Sarrasin zu schärfen“. (S. 161 f.) Dass dieser Bundesbanker und Mitautor von Hartz IV ein neoliberaler Technokrat und Sozialdarwinist reinsten Wassers ist, fällt offenbar nicht weiter ins Gewicht angesichts seiner Tiraden gegen orientalische Gemüsehändler oder Sozialhilfeempfänger, die „nur neue kleine Kopftuchmädchen“ produzieren und zur „Entleerung der unteren Schichten von intellektuellem Potential“ beitragen. (Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, Müchen 2010, S. 91 ff., 227)
Stilbildend für die neue Rechte war und ist auch Sarrazins Lamento auf allen großen Medienbühnen der Republik, dass der linksliberale Terror der „political correctness“ ihn wie alle, die mit „Volkes“ wahrer Stimme sprechen, nicht zu Wort kommen lasse. So albern diese Klage ist, so ernst wäre das Thema selbst: der Krückstock einer „korrekten“ Sprache, die unsprechbar wird, und einer „korrekten“ guten Gesinnung, die alle Ambivalenzen der menschlichen Gefühle und Gedanken ausradieren möchte. Wagner lässt am Ende seines Buches einige kluge Theaterleute und Publizisten wie Bernd Stegemann darüber sinnieren, wie harte soziale Eigentums- oder Gerechtigkeitsfragen sich immer mehr in weiche, identitätspolitische Fragen aufgelöst haben, die eher als Wege zur Selbstverwirklichung und zum Wohlfühlen im Kreis der Gleichgesinnten dienen als dazu, sich den gesellschaftlichen Realitäten und Konflikten zu stellen; wie im Namen der „offenen Gesellschaft“ sich eine Art Bunkermentalität breitmacht, die im Grunde von einer tiefen eigenen Verunsicherung zeugt; und wie gerade eine gutmeinende Kulturintelligenz sich dabei in einen elitären Jargon flüchtet, der die „höfische Sprache unserer Zeit“ zu werden drohe. (Vgl. S. 277-296; Zitat S. 295)
Das macht es den Protagonisten der Neuen Rechten umso leichter, sich als die zugleich Verfolgten und Diskussionswilligen zu präsentieren. „Redet mit uns, redet mit der AfD und lernt unsere Konzepte kennen. Das ist erstens der Weg zur Entzauberung und zweitens der Weg zum Kompromiss.“ So Kubitschek. Der nette Herr Sellner (immerhin ein ehemaliger Neonazi, wie er selbst lächelnd konzediert) beteuert, man kämpfe ja nicht gegen einen militärischen Gegner, sondern nur gegen „eine Ideologie, deren Träger ... Landsleute seien“, die es zu überzeugen, nicht zu besiegen gelte. (S. 211) Und im Übrigen sei die „Enthemmung der Sprache ... für uns nichts Schönes“, so wieder Kubitschek; womit er freilich nur meint, dass Schnellroda als ein Ort für Holocaustleugner hingestellt werde (was es nicht ist) und dass von ihm verwendete Begriffe wie die von einem „Vorbürgerkrieg“, die doch nur „eine Art Markenlogo“ seien (so Kositza), immer gleich so „bierernst“ genommen und vom bürgerlichen Publikum mit Panik beantwortet würden. In Wirklichkeit, so wieder Kubitschek, „reden (wir) ja nur, sind Metapolitiker“, für die Politik „auch eine Kunstform“ sei, ein Versuch, „Dinge so anzumalen, dass sie interessant werden“. (S. 263-65)
Na ja. Wagner versäumt es, hier die nötigen harten Fragen zu stellen. Wenn die Verschwörungstheorie der Identitären vom „großen Austausch“, der von wem auch immer – dem kosmopolitischen Finanzjuden George Soros, sagt Victor Orban – planvoll vorangetrieben und einem großen Plan der „Umvolkung“ (Muslime gegen Europäer) gehorche, auch nur ansatzweise wahr wäre: dann wäre man doch wohl in einem sehr realen Bürgerkrieg. Und wenn dieses, mittels massenkulturellem und religiösem Identitätsverlust der Abendländer, der Geburtenwaffe der orientalischen Immigranten, dem täglichen Terror muslimischer Nafris gegen deutsche Mädchen („unsere Lisas“) sowie dem Drogenhandel des „afrikanischen Ausbreitungstypus“ (Bernd Höcke auf Schnellroda) vorangetriebene apokalyptische Projekt eine Realität wäre: welches Mittel einer Notwehr sollte den von kultureller und ethnischer Auslöschung Bedrohten dann verwehrt sein?
Das alles soll nur „Metapolitik“ sein, eine mythologische Erzählung zwecks Nachhilfe in „männlich-thymotischer“ Körperspannung, die den effeminierten deutschen Burschen im Unterschied zu den türkischen und arabischen Jungs leider großteils abgehe (S. 193), kurzum: ein rein defensives Projekt? „Klar ist, dass unsere Zeit einer Aufladung bedarf“, sagt Kubitschek immerhin, einer neuen Dynamik, so wie 1933 und wie 1968 sie einstmals auf jeweilige, faszinierende Art geliefert hätten (S. 238). Klar sei auch, dass bei einer solchen geistig-moralischen Ertüchtigung, die die Parameter des Politischen von den Rändern her verschiebt, „von vorn her geführt werden“ muss, wie er als Ex-Offizier weiß. (S. 151) Seine Versicherung, er wisse schon, dass es „ein Gewaltakt“ à la Lenin oder Hitler wäre, wenn man seine Überzeugung, eins zu eins in Politik umsetzen wollte: nämlich zum Beispiel, dass es um des Friedens und der Zukunftsfähigkeit unseres Landes willen notwendig sei, „von den vielleicht zehn Millionen echten Ausländern, die wirklich fremd und nicht integriert sind, zwei Drittel nach Hause (zu) schicken“ - diese Versicherung klingt dann doch reichlich zweideutig. (S. 265)
Draußen auf dem Platz bei Pegida im Tröpfchennebel eines diffusen Welthasses klingt das alles denn auch sehr viel eindeutiger. Und man fragt sich, ob Wagner eigentlich die Richtigen interviewt hat – durchweg Leute, die sich statt in den Niederungen der eigentlichen Massenpolitik lieber im Nebel einer narzisstischen „Metapolitik“ bewegen, in dem sich alles um ihre irgendwie zu fassende und zu rettende „Identität“ dreht, fast wie in einem karikaturhaften Vexierbild der linken „identity politics“, die sie so lebhaft denunzieren.
Die „Enthemmung der Sprache“ betreibt jedenfalls niemand so fanatisch wie die, die in einem Atemzug den Verfall bürgerlicher Werte nach 1968 beklagen. Was ist mit „Merkel-Nutte, die jeden drüberlässt“, wie der Vorsitzende des Rechtsausschusses im Deutschen Bundestag einer johlenden Menge in Sachsen-Anhalt verkündet hat. Was mit den klammheimlichen SS-Fantasien der sächsischen AfD-Jungtürken in ihren abgeschirmten Chat-Groups? Und was, wenn wie bei einem Tourette-Syndrom aus Frau Weidels schönem Munde "Es" wie Erbrochenes herausquillt, während sie eigentlich über den Staatshaushalt oder andere substantielle Dinge sprechen sollte? Da kommt die Sache immer von Neuem auf ihren Begriff, und nichts spricht dafür, dass es sich lediglich um „gezielte Provokationen“ handele, um zu Diskussionen anzuregen. Sondern hier endet eben jede Diskussion, bevor sie hätte beginnen können.
Eine konservative, fortschrittsskeptische, illiberale Intellektualität und Geistigkeit hat es immer gegeben, und das ist gut so. Demokratie lebet vom Widerspruch, gern auch im Modus einer „Diskursstörung“ (um Böckelmanns „Tumult“ zu zitieren). Und Kunst und Literatur brauchen das ebenso. Aber ein Reden um des Redens willen gibt es schon genug. Und gerade auch im permanenten Infotainment der „Staatsmedien“, deren Gesinnungsterror die Rechte beklagt, setzt sie selbst längst schon in einem grotesken Missverhältnis die Themen, als da wären: erstens Flüchtlinge, zweitens Flüchtlinge, drittens Flüchtlinge.
Was fehlt, wäre eine ernsthafte, den eigenen Gesinnungsnarzissmus zügelnde, der Größe und Vielfalt der Problemlagen verpflichtete, in aller Polemik unbeirrt sachliche Auseinandersetzung, die am diskursiven Gegner die Güte ihrer Argumente prüft und schärft. Das wäre, wie Simon Strauß richtig sagt,eine genuine Aufgabe für die Theater mit „ihrer alten Expertise für Spannungsaufbau“ (S. 268). Andere, profanere Bühnen bräuchte es aber wohl auch.
Besonders gut brannte im Winter 1944 die Frankfurter Altstadt mit ihren dichten Fachwerkbauten. Gestern Abend haben wir an einem traumhaft schönen Abend die neue Altstadt, von der gerade die Bauzäune entfernt worden waren, angeschaut und gleichsam in Besitz genommen, bevor die chinesischen Touristen sie überschwemmen. H. kamen für einen Moment die Tränen: "weil man jetzt erst sieht, wie viel damals verbrannt ist ..." Schärfer und gegenwärtiger als manche kritischen Geister, die die rekonstruierte Altstadt als einen Akt der Übertünchung der Abgründe der deutschen Geschichte sehen, empfindet H. als Nachfahrin vieler Angehöriger, die in diesen Abgründen spurlos verschwunden sind, die kulturellen Verluste, die die Deutschen sich selbst zugefügt haben. Ihr Bedürfnis als Migrantin nach vertrauten Orten, an denen sie sich in dieser Welt und ihren Stürmen ein wenig zuhause fühlen kann, markiert vielleicht die genaueste Gegenperspektive zum geblähten neuen Nationalstolz und verdorbenen Heimatbegriff der Gaulands (nomen est omen).
Auf einer Veranstaltung im (ebenfalls neu erbauten) Frankfurter Stadtmuseum zur Bücherverbrennung habe ich aus Texten von Karl Marx gelesen, dessen 200. Geburtstag sich gerade zu einem veritablen "Marx-Jahr" ausgewachsen hat, und dessen Schriften im Beisein von Goebbels als erste in die Flammen geworfen wurden, begleitet vom Feuerspruch "Gegen Klassenkampf und Materialismus, für Volksgemeinschaft und idealistische Lebenshaltung". Der 10. Mai folgte auf die Umwandlung des 1. Mai in einen "Tag der nationalen Arbeit", und das erklärt vermutlich, warum Marx in effigie (als Gespenst) als erster verbrannt wurde, zusammen mit Karl Kautsky, der als der Vordenker der deutschen Sozialdemokratie galt. Wenn Hitler von "Marxisten" sprach, meinte er in erster Linie die Sozialdemokraten, die die demokratische Republik begründet hatten und die auch 1933 noch für den konsolidierten Kern der deutschen Arbeiterschaft standen, anders als die Kommunisten, die eine mobile Straßenkampf-Partei mit proletarisch-intellektuellem Flair waren und ihre Schlagkraft in betont gleicher Weise gegen die "Braunen" (die Nazis und ihre SA-Kolonnen) und die "Grünen" (die "sozialfaschistische" SPD und ihre Polizei) gerichtet haben.
Ich las u.a. eines meiner Lieblingszitate aus den frühen Philosophisch-Ökonomischen Manuskripten von Marx, und zwar aus seinen Reflexionen über das Geld als das "entfremdete Gattungswesen" und "entäußerte Vermögen der Menschheit", dessen ideelle Wiederaneignung er in eine poetische, biblische, aber keineswegs transzendentale Perspektive rückte: "Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. Wenn du die Kunst genießen willst, mußt du ein künstlerisch gebildeter Mensch sein; wenn du Einfluß auf andre Menschen ausüben willst, mußt du ein wirklich anregend und fördernd auf andere Menschen wirkender Mensch sein. Jedes deiner Verhältnisse zum Menschen – und zu der Natur – muß eine bestimmte, dem Gegenstand deines Willens entsprechende Äußrung deines wirklichen individuellen Lebens sein. Wenn du liebst, ohne Gegenliebe hervorzurufen, d.h., wenn dein Lieben als Lieben nicht die Gegenliebe produziert, wenn du durch deine Lebensäußrung als liebender Mensch dich nicht zum geliebten Menschen machst, so ist deine Liebe ohnmächtig, ein Unglück.“
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Putin konnte diesen 9. Mai als Tag seines persönlichen Sieges (seiner Akklamation in einer mehr als einseitigen Wahl) und im Glanz der neuen Siege der russischen Waffen (in der Ukraine und in Syrien) feiern. In ganz Russland sollen zehn Millionen Menschen mit Fotos ihrer toten Angehörigen als ein einziges, gigantisches "Unsterbliches Regiment" durch die Straßen marschiert sein - Putin selbst mit dem Foto seines toten Vaters vornweg. Das ergibt ein machtvolles, bewegendes, aber durchaus auch bedrohliches Bild. Mit seinem sicheren Instinkt für wirksame Inszenierungen hat Putin sich diese, vor einigen Jahren aufgekommene Tradition, wie er behauptet: "spontan" zu eigen gemacht und damit seiner kalten Imago als dem Führer eines wiederaufgerichteten großen Russland ein genuin emotionales, warmes Element hinzugefügt.
So ist der "Tag des Sieges" nun der Tag der großen Kommunion von Volk, Reich und Führer - unter den Emblemen des neuen Russland, der "im Felde unbesiegten" Sowjetunion wie der in ihre alten Rechte wiedereingesetzten heiligen Orthodoxie. Es ist der Tag, an dem das neue, große Russland sich abermals als die legitime Erbin des alten (des zarischen wie des sowjetischen) Vielvölkerreichs in seine "historischen Rechte" einsetzt - mit allen Ansprüchen, die die vergangenen Menschenopfer gegenüber den neuen, aus dem Zerfall der Sowjetunion hervorgegangenen Staaten von der Ukraine bis zum Baltikum begründen sollen, so als wären es vorwiegend russische Opfer gewesen und nicht die Opfer aller Völker der Sowjetunion. Genau auf dieser sentimentalisch verzerrten Schiene läuft es (abgesehen von den materiellen Boni natürlich), wenn Gerhard Schröder bei der Inauguration Putins gleich nach dem Patriarchen und noch vor dem Ministerpräsidenten gratulieren durfte - als Kronzeuge und zugleich als Generalagent eines neugewonnen Einflusses, den Russland jetzt an allen Fronten der aktuellen Weltkonflikte ausübt.
Aber zugleich soll dieser reinszenierte "Tag des Sieges" auch der Tag der Versöhnung mit einer Geschichte des eigenen Landes sein, die sich eigentlich nicht versöhnen oder gar "bewältigen" lässt. Es ist der Tag, an dem die Bilder der Millionen im "Großen Vaterländischen Krieg" Gefallenen, Soldaten und Zivilisten, die Bilder der Millionen von der eigenen Staatsmacht Ermordeten oder um Leben und Existenz gebrachten Bürger der ehemaligen Sowjetunion überdecken (sollen). Es ist der Tag der Schöpfung einer neuen, mythologisch überhöhten Historie, die das große, unerschütterbare, immer siegreiche Russland sich von der Hand seiner berufenen Geschichtspolitiker auf den Leib schreiben lässt - in vermeintlich historisch legitimierter, unversöhnlicher Feindschaft gegen eine westliche Außenwelt, die sich der Instrumente von Faschismus und Terror bedient, um Russland aus seiner alten und neuen weltpolitischen Höhe zu stürzen.
In einem Text "Im Zirkel der Geschichte", der auch ein Nachruf auf Arsenij Roginski war, den kürzlich verstorbenen Kopf der Moskauer Geschichts- und Menschenrechtsorganisation "Memorial", schrieb ich in "Osteuropa" (Heft 11-12 / 2017):
"Hitlers Projekt der Eroberung germanischen Lebensraums im Osten, irrwitzig wie es war, baute den Schein seiner Plausibilität gerade auf den immensen Menschenverlusten und Verwüstungen auf, die sich Russland als Vielvölkerreich im sektiererisch entfachten Bürgerkrieg von 1918–1922 selbst zugefügt hatte, und dann noch einmal in den Katastrophen der Kollektivierung und im Großen Terror der 1930er Jahre. Das erst erlaubte es Hitler, sich die UdSSR als einen „Koloss auf tönernen Füßen“ vorzustellen, den man zuerst ausnutzen und dann niederwerfen konnte. Und Stalin selbst war es gewesen, der durch den stillen Kriegspakt von August/September 1939 eine gemeinsame Grenze mit dem Nazireich hergestellt und seine vom Terror dezimierte, nicht auf Verteidigung eingestellte Armee und sein psychisch und physisch erschöpftes Land im Sommer 1941 nach einer katastrophalen Fehleinschätzung der Weltpolitik hatte überrumpeln lassen – mit Verlusten, die dem tatsächlichen Kräfteverhältnis keineswegs entsprachen.
Und wäre wenigstens der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg, der heute als das Zentralstück der patriotischen Neuerfindung Russlands dient, wirklich das gewesen, was die Völker des Vielvölkerimperiums und seine Subjekte vereint und aufgerichtet hätte! Stattdessen war dieser Sieg vielfach das Instrument ihrer letzten, ultimativen Spaltung und Demütigung: Nicht nur das Gros der nicht-russischen Nationalitäten, von den Ukrainern bis zu den Tataren oder Tschetschenen, auch Millionen russischer „Hiwis“, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Kriegsgefangener und selbst KZ-Insassen wurden als Kollaborateure und „deutsche Hündinnen“ an die Seite der früheren „Volksfeinde“ und ihrer Familien gerückt, und füllten ab 1944 den üppiger denn je aufblühenden Archipel der Lager und Verbannungsorte.
Selbst die Masse der einfachen Rotarmisten, die – fast ohne jede Chance, diesen Krieg heil zu überleben – in immer neuen Jahrgängen in die Schlachten geworfen worden waren, wurden kaum in einer ihrem Selbstopfer angemessenen Weise geehrt, geschweige entschädigt, sondern als psychisch lädierte oder physisch verstümmelte Menschen vielfach aussortiert und an den Rand gedrängt. Die Ordensbrüste der Veteranen, meist Offiziere, an den Festtagen, wie sie vor allem in der Breshnev-Zeit ins Bild gerückt wurden, täuschten nur darüber hinweg, dass vielleicht keine Generation in Russland von ihrem Vaterland so misshandelt worden ist wie gerade die der einfachen Kriegsteilnehmer; von den Millionen Frauen, die an und hinter der Front die stumme Grundlast dieses Überlebenskampfs getragen haben, noch ganz zu schweigen."
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Und das gilt nicht nur für Israel, den Iran, den Nahen Osten - als wären wir nicht längst Zeugen und (aktiv oder passiv) Mitakteure eines Hexenkessels infernalischer Kriege und Bürgerkriege, Staatenzusammenbrüche und Terrorkampagnen, die zum Schlimmsten gehören, was die Welt seit dem zweiten Weltkrieg gesehen hat und die jederzeit das Zeug zu einem großen Weltkonflikt haben. Die Kettenreaktionen, die Präsident Trump (noch immer sträubt sich die Tastatur, diesen Titel mit diesem Namen zu verbinden) mit der Kündigung des Atomabkommens mit Iran und seinem offen auf regime-change zielenden Konfrontationskurs gegen Teheran in Gang setzt - politisch, militärisch, weltwirtschaftlich -, lassen sich nicht annähernd abschätzen. Den iranischen Expansionismus in der Region, der sich großteils klug dritter Akteure bedient, wird das nur beflügeln.
Und dasselbe gilt für den in paradoxer Verkehrung plötzlich irgendwie lösbar erscheinenden Konflikt mit der realen Atommacht Nord-Korea, dessen Führer Kim III. nun gerade wieder in China weilt, an dem so oder so kein Weg vorbeiführt und das von allen kriegerischen Verwicklungen seiner weltpolitischen Rivalen bisher noch immer profitiert hat. Trump wird in bisher nicht gekanntem Maße dafür als nützlicher Idiot dienen, so wie Bush mit seinem "Krieg gegen den Terror" und gegen eine "Achse des Bösen" auch gewesen ist.
Ich hasse es, die Kassandra zu spielen. Aber alles in der "Geschichte des gegenwärtigen Moments" deutet darauf hin, dass wir in eine Ära neuer Weltkonflikte eingetreten sind, die den großen Konflagrationen der Ära des "Kalten Kriegs" - der ja nur in Europa zeitweise stillgestellt schien - mindestens gleichkommen werden. Und mehr als in den 1950er bis 1980er Jahren verflechten sich diese zahllosen, scheinbar unzusammenhängenden Einzelkonflikte mit einer die ganze Welt und Weltbevölkerung erfassenden Umwälzung und Erschütterung der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebensverhältnisse. Titel wie "Globalisierung", "kapitalistische Weltwirtschaft", "Digitalisierung", "Kampf der Kulturen" und so weiter sind kaum mehr als begriffslose Indikatoren. Es handelt sich, in Anlehnung an ein Wort Hannah Arendts, um "den Ernst und den Schrecken ..., die der Idee der Menschheit ... zukommen, sobald nun wirklich alle Völker auf engstem Raum mit allen anderen konfrontiert sind“ (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 379)
"Glanz, Ernst und Schrecken der einen Welt" wäre das Leitmotiv, unter das ich diese und alle weiteren Betrachtungen zur Geschichte des gegenwärtigen Moments stellen möchte.