1700 Menschen im Saal und auf den Emporen, Auftritt Gewandhausorchester, ein veritables Symphonieorchester. Eröffnung mit scharf eingespielten Janaček-Klängen, dem Gastland Tschechien zu Ehren. Dann Oberbürgermeister Jung als Hausherr, langdienender Wessi-Sozi in Leipzig, mit einem sehr politischen Statement, was die umkämpfte Mitte der deutschen und europäischen Meinungslandschaft betrifft. Dann die Kulturstaatssekretärin Grütters über Deutschland und den Osten. Dann der Ministerpräsident von Sachsen Kretschmer über die Verteidigung der Demokratie hier und heute. Wenn so der rechte CDU-Flügel aussieht, kann ich gut schlafen. Dann der Vorsitzende des Börsenvereins, Riethmüller, sehr dezidiert, was die Fragen des Urheberrechts angeht und was die Umwälzungen in der Gutenberg-Galaxie betrifft, die Verlage und Buchhandel durchschütteln, aber das ja schon eine ganze Weile so. Last not least der Kulturminister von Tschechien, Stanek, der seine wackeren Einsprüche gegen die rechtspopulistische Strömung daheim und anderswo mit einem kräftigen „Ahoi!“ beschließt. Böhmen liegt, entgegen anderslautenden Gerüchten, also doch am Meer.
Dann Smetana und die Moldau. Wohlklang, der noch in der x-ten Wiederholung zum Herzen geht. Aber jetzt bist Du dran. Mit Masha Gessen, der kleinen, ausgewählt androgyn gekleideten Preisträgerin, hast du dich gerade vorher erst bekannt gemacht. Sie hackt bis zur letzten Minute noch redaktionelle Anweisungen an den „New Yorker“ (ihren aktuellen Job) in ihr Mobile. Oder haben die Kinder sich gemeldet?
Die Laudatio kennt die Laudatierte (entgegen meiner Erwartung) noch gar nicht. Ich habe jedenfalls das gute Gefühl, das Publikum trotz des hoch kontroversen Themas zu erreichen – was mir später von vielen Seiten bestätigt wird. In der TAZ, die als erste gefragt hat, wird die Rede in der Wochenendausgabe vom 7. April veröffentlicht, ergänzt um ein paar gekürzte Passagen, die mir für eine öffentliche Ansprache zu persönlich schienen, aber ihr Profil schärfer machen.
(Der Text ist auf dieser Website unter Essays und Beiträge nachzulesen.)
Gessens eigene Acceptance Speech ist so scharfkantig geschliffen und so knapp, wie sie auch sonst schreibt und tickt. Sie spricht vor allem über die Frage, was es mit einer Gesellschaft macht, wenn die eigene Geschichte (die der Familie oder des ganzen Landes oder bestimmter Ereignisse) über Generationen hinweg mit Schweigen bedeckt oder nur in Bruchstücken erzählt werden kann, und was es bedeutet, wenn ein Großteil der (philosophischen, soziologischen, psychologischen usw.) Begriffe, mit denen die gesellschaftliche Realität zu beschreiben wäre, über Jahrzehnte ausgeschaltet war.
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Im Vorfeld hatte mich über zwei beflissene Ecken die Aufforderung erreicht, Gessen müsse unbedingt „geschlechtsneutral“ angesprochen werden.
Sie selbst sagte davon nichts – wie auch, sie spricht kein Deutsch, bedankt sich für meine „Laudatio“ (im Englischen ein unbekanntes Wort), die sie in Übersetzung mitgelesen hat. Und auch in den beiden Veranstaltungen, die wir am folgenden Tag noch zusammen bestreiten, bin ich es, der ihre Erfahrungen und Gefährdungen als LGPT-Aktivistin und dann als homosexuell verheiratete Frau mit Kindern in Russland anspricht. Für sie war das in diesem Fall nicht das vorrangige Thema, und auch in dem in Leipzig ausgezeichneten Buch „Die Zukunft ist Geschichte“ kommen diese Fragen nur am Beispiel der Geschichte eines ihrer jungen Protagonisten vor.
Umso mehr habe ich mich gefragt, wie das eigentlich aussehen würde, wenn sie tatsächlich darauf bestanden hätte, „geschlechtsneutral“ angesprochen zu werden –also auch nicht als Frau. Müsste ich statt „die Autorin“ dann „das Autorx“ sagen? Sprachlich ist das nicht durchzuhalten, schon gar nicht in gesprochener Rede. Aber auch in schriftlichen Texten führen die Versuche, mittels Sternchen oder großem I, Schräg- oder Unterstrichen oder mit substantivierten Partizipien das generische Maskulinum aus der geschriebenen Sprache zu löschen, in einen Irrwald, aus dem kaum ein Entkommen ist. Ein konsequent „geschlechtsneutral“ durchgegenderter Text wäre nicht nur unlesbar und ungenießbar – er wäre vor allem unartikulierbar. Das wäre das Ende von „Sprache“ im Sinne dieses Wortes.
Nicht zufällig sind es amtliche, förmliche oder vereinsmäßige Texte, die aus reiner Bequemlichkeit und Konfliktscheu diese angeblich „gendergerechten“ Schreibweisen immer durchgängiger und dabei völlig inkonsequent praktizieren – so wenn die Taz (die in diesen Fragen einer fröhlichen – oder auch unfrohen – Inkonsequenz frönt) in der elektronischen Ausgabe mich als „AutorIn“ meiner Leipziger Laudatio rubriziert. Das erinnert mich an eine TAZ-Meldung in Zeiten des damals noch ganz frischen großen I, die berichtete, das Horden von FalangistInnen in einem Lager im Libanon Hunderte von PalästinenserInnen ermordet hatten. Ich glaube, es ging um das Massaker in Sabra und Schatila im libanesischen Bürgerkrieg. Oder war es ein BürgerInnenkrieg? Oh Wildnis, oh Flucht aus ihr!
In Stellenausschreibungen oder in amtlichen Dokumenten mag es sinnvoll sein, „männlich/weiblich/divers“ als Optionen anzuführen, besser jedenfalls, als an allen möglichen oder unmöglichen Stellen Sternchen einzufügen. In Alltagsmitteilungen ist das alles komplett unnötig und eher eine Form der Entpersönlichung als umgekehrt. Viele generische Maskulina lassen sich weder vermeiden noch auf irgendeine sinnvolle Weise gendern, „Der Mensch“ zum Beispiel. Außerdem gibt es auch viele generische Feminina: „Die Person“ zum Beispiel.
Frauen in ihren jeweiligen sozialen Rollen als solche anzusprechen, als Kollegin, Ärztin, Professorin, Goldschmiedin, Fliesenlegerin oder eben Autorin, ist in Wirklichkeit überhaupt kein Problem. Die Verlegenheit entsteht erst dort, wo man wirklich konsequent „geschlechtsneutral“ sprechen und schreiben möchte. Dann ist das Ergebnis, jedenfalls im Deutschen, ein sprachlicher Mulm, oder man kreiert bürokratische Ungetüme. In Saarbrücken habe ich Straßenschilder gesehen, die „Rechts Abbiegende“ – zu ergänzen: „Auto Fahrende“ – auffordern, auf „Rad Fahrende“ achtzugeben.
In allen diesen sprachlichen Gymnastikübungen kommt etwas zum Vorschein, das ich gefühlsmäßig fast geneigt wäre, reaktionär zu nennen. Der Anspruch auf eine beliebig zu designende „sexuelle Identität“ jenseits von Physis, Sozialität und Generativität läuft auf eine Neutralisierung im umfassendsten Sinn hinaus und schafft eine expandierende Zone sakrosankter Unberührbarkeit, die mir ziemlich katholisch-muslimisch vorkommt. Aber das sind unfrisierte Gedanken, und vielleicht bin ich ja der Reaktionär. Ich muss weiter darüber nachdenken.